Der Handballmeister

– Weißenfels gehörte zu den Handballhochburgen in Ostdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Nur noch wenige Lebende des einst legendär-erfolgreichen Handballspiels gibt es heute noch. Zwei habe ich getroffen und für die Mitteldeutsche Zeitung gesprochen. Die beiden Beiträge hier hintereinander, weil der zweite eine direkte Folge des ersten war. (2017)

Das war seine Welt. Der nur gut 1,70 Meter große Rechtsaußen mit dem starken linken Arm lief auf der rechten Außenbahn ins gegnerische Torraumdrittel hinein, schwenkte nach innen und zog mit Links über den Kopf hinweg den Ball in die untere linke Torwartecke. „Mein Wurf war gefürchtet bei den Gegnern“, sagt er. Und zu Recht, denn mit einem dieser Würfe schaffte er die Vorentscheidung im Endspiel der Meisterschaft.

Erich Marhold, eine Legende des Weißenfelser Handballs.

Erich Marhold, heute knapp 91 Jahre alt, holte vor 69 Jahren mit der Mannschaft von Schuhmetro Weißenfels den Titel des Ostzonenmeisters, ein Vorläufer der DDR-Meisterschaft, im Großfeldhandball. Am 4. Juli 1948 besiegten die Weißenfelser in einem bis zur Halbzeitpause spannenden Spiel Rostock-West mit 12:7. Und das vor einer unglaublichen Kulisse. 35.000 Zuschauer standen nach dem Bericht der Zeitung „Freiheit“ im Stadion in Leipzig-Probstheida auf den Tribünen des späteren Bruno-Plache-Stadions und feuerten die Mannschaften an, darunter Hunderte Weißenfelser. Einige Quellen sprechen sogar von 40.000 Zuschauern.

Spitzenhandballer kam als Achtjähriger von Nordhausen nach Weißenfels

Geschuldet war das unter anderem dem Umstand, dass es eine Doppelveranstaltung war. Denn im Anschluss an das Handballspiel wurde auch die Ostzonenmeisterschaft im Fußball zwischen Zwickau-Planitz und Halle-Freiimfelde entschieden – die Planitzer siegten 1:0.

Erich Marhold, der heute in einem Pflegeheim im Berliner Westend lebt, erzählt beim Gespräch in seinem Zimmer über jenen Tag, als wäre es gestern gewesen.

So berichtete die Zeitung „Freiheit“ über das Handballereignis 1948 (Fotos oben und unten – die Bilder entstanden mit freudlicher Genehmigung des Stadtarchivs Weißenfels).

Der Spitzenhandballer kam als Achtjähriger von Nordhausen nach Weißenfels, weil sein Vater 1935 Arbeit in den Leuna-Werken bekommen hatte. Weißenfels war schon damals eine Handball-Hochburg und so war es kein Wunder, dass der Junge schnell entdeckt wurde. „Im Sportunterricht spielten wir Völkerball und ich konnte den Ball scharf und platziert auf den Gegner schießen. So wurde ich gefragt, ob ich nicht zum Handball kommen wollte“, erinnert sich Marhold.

Erich Marhold: Karriere im Handball durch den Krieg unterbrochen

Allerdings wurde die Karriere erst einmal durch den Krieg unterbrochen. Wie viele andere seiner Generation musste Marhold als Jugendlicher zum Arbeitsdienst, dann zu den Flak-Helfern und danach in die Wehrmacht der Nazis. 1946 kam er aus der Kriegsgefangenschaft zurück.

Trainer Kurt Näther kannte den jungen Mann und holte ihn zu seiner Weißenfelser Handballmannschaft. „Eigentlich spielten dort vorwiegend schon etwas ältere Sportler, die sich mit dem Trainer duzten. Ich war einer von den drei, vier ganz jungen, die ehrfurchtsvoll zu ihm aufschauten“, erzählt Marhold. Aber er hält noch heute große Stücke auf Näther.

Handballmeister von 1948: Das Geheimnis der Weißenfelser

„Der hat uns vor allem konditionell auf die Spiele vorbereitet, so dass wir oft unseren Gegner deutlich überlegen waren“, sagt Marhold. In der Regel musste ein Handballer damals die zwei Halbzeiten zu je 30 Minuten durchspielen. „Die letzte Viertelstunde war die härteste, aber nicht für uns, wir hätten nach dem Abpfiff noch mit vollem Tempo weiterspielen können.“

Das war dann wohl auch das Geheimnis der Weißenfelser. In jenem Finalspiel 1948 stand es zur Halbzeitpause 7:7, erinnert sich Marhold und man kann es in alten Zeitungen nachlesen. Dann setzte Spielführer und Freiwurfspezialist Herbert Wettwer sein ganzes Freiwurfkönnen ein, um die Führung zu erzielen. Dann schlug die Stunde von Erich Marhold. Er hatte in der ersten Halbzeit schon den Ausgleich zum 1:1 besorgt und baute in der zweiten die Führung mit eben seinem Spezialwurf auf 9:7 aus.

Handballmeister von 1948: 2.000 Mark Prämie von der Stadt und einen Ostseeurlaub mit Partnerin

„Danach mussten die Rostocker einen Wirbelsturm über sich ergehen lassen“, schrieb der damalige Sportreporter der Freiheit. Ein Jahr danach reichte es noch mal zur Vizemeisterschaft.

Marhold, der später wieder nach Nordhausen zurückging, dort Spielertrainer beim Handball und Buchhalter in der Tabakfabrik war, erinnert sich, dass man die Zeit danach genossen hat. Ohnehin hatte Trainer Näther schon jedem seiner Jungs einen Fleischer aus der Gegend als „Paten“ zur Seite gestellt, damit die Spieler in den Nachkriegsjahren genügend Kraft tanken konnten. „Aber nach der Meisterschaft gab es für jeden von uns Handballern 2.000 Mark Prämie von der Stadt und einen Ostseeurlaub mit Partnerin“, erzählt Erich Marhold. Nach dem Training gab es auch immer einen reich gedeckten Tisch.

Marhold ging in den 1950er Jahren nach Hannover

Nur einmal reichten die Kräfte trotzdem nicht. „Als Ostzonenmeister fuhren wir zu einem Spiel in Berlin-Wilmersdorf. Unseren Erfolg hatten wir sogar stolz an die Busscheibe gemalt“ erzählt Marhold lachend. Die Wilmersdorfer spielten aber die dem Meister unbekannte sogenannte Betontaktik, an der sich die läuferisch aktiven Weißenfelser erfolglos die Seele aus dem Leib rannten. „Wir waren fix und fertig und hatten verloren. Die Aufschrift am Bus haben wir dann schnell abgewischt.“

Marhold ging in den 1950er Jahren nach Hannover, „weil ich als politisch unzuverlässig galt“, später nach Bremen, wurde Bauingenieur und arbeitete in Hannover bei Baubehörden. Nachdem seine Frau im vorigen Jahre gestorben war, holte ihn sein 1953 geborener Sohn nach Berlin, wo er auch wegen seiner extremen Sehschwäche einen Platz im Pflegeheim fand. „Nicht weit von unserer Wohnung“, sagt Sohn Hartmut Marhold.

Nur gingen bei dem Umzug ein paar Papiere verloren, darunter wohl auch der Zeitungsausschnitt von 1948. Deshalb hatte sich Hartmut Marhold an die Mitteldeutsche Zeitung gewandt mit der Frage, ob er den Ausschnitt noch einmal bekommen könnte. Mit Hilfe des Weißenfelser Stadtarchivs konnten Fotokopien der damaligen Artikel angefertigt und übersandt werden. „Ich habe ihm alles vorgelesen und das Bild beschrieben“, sagt Hartmut Marhold. „Mein Vater war darüber sehr glücklich.“ (mz)

Statistik -Endspiel um die Ostzonen-Meisterschaft im Feldhandball 1948  

ZSG Schuhmetro Weißenfels – SG Rostock-West 12:7 (3:3)

Weißenfels: Wiebicke – Agsten, Horack, Petersohn (1), Hoffmann, Reinsperger, Marhold (2), Michael (2), Liebert, Wettwer (7), Zimmermann.

Ort: Leipzig – Probstheidaer Stadion (später Bruno-Plache-Stadion) – Zuschauer: 40.000

 

Die Glorreichen

Die Erinnerungen von Erich Marhold an die Ostzonenmeisterschaft im Feldhandball von 1948 fanden in der an Handballtradition reichen Stadt Weißenfels natürlich ihre Leserschaft. Auch wenn die Zeitzeugen für jene frühen Jahre rar sind, zumindest für die 1940er Jahre steht nicht nur der heute in Berlin lebende Erich Marhold.

Egon Leser erinnert sich noch an viele Ereignisse des Weißenfelser Handballs. (Foto: Michael Thomé)

Egon Leser, der heute noch in Weißenfels wohnt, hat jene Zeit miterlebt. Zwar gehörte er nicht zur ersten Mannschaft von Schuhmetro Weißenfels, die 1948 vor 35.000 Zuschauern im Probstheidaer Stadion in Leipzig den Titel des Ostzonenmeisters holte. „Wir waren die Reservespieler“, erzählt Leser. Er erinnert sich auch noch an „Ami“ Kalmring und Drescher. Sie alle waren nur wenige Jahre jünger als der jetzt 91-jährige Marhold und traten erst später in deren Fußstapfen. Sie hielten die Handballtradition in Weißenfels hoch.

Polizei Weißenfels sorgte schon 1932 für Furore im Handball

Egon Leser erinnert sich daran, dass die Männer von Polizei Weißenfels schon 1932 für Furore im Handball sorgten, ebenso war es 1938 der MSV Weißenfels. Dessen Spielführer Klingler war nach den Erinnerungen von Leser bereits 1936 Olympiasieger geworden. Ebenso waren die Handballfrauen aus Weißenfels bekannt. Sie waren zum Beispiel 1925 schon Mitteldeutscher Meister geworden. Namen wie Ella Rothe, Kläre Wagner, Marie Lier, Elli Babel oder Wally Albrecht waren unter den Handballfreunden bekannt. Trainer war damals übrigens Egon Lesers Vater Erich. Auch seine Mutter war aktive Handballerin.

Egon Leser gehörte bereits vor Beginn des Zweiten Weltkrieges zu den Weißenfelser Handballern. „Ich war damals Mitglied im TV 1861“, berichtet er. Später gehörte er wie Marhold zu Schuhmetro Weißenfels und schließlich zu Fortschritt Weißenfels. Damals gehörten die Handballsektionen zumeist als Sparte zu den Turnvereinen, wie eben dem TV – also Turnverein – Weißenfels 1861 oder zum Männerturnverein Weißenfels. Das hatte Konsequenzen. „Wer donnerstags zum Handballtraining wollte, der musste schon dienstags zum Gerätturnen erscheinen“, erinnert sich Leser. Das änderte sich erst in den 1940er Jahren.

Ohne Sponsoren war auch zu jener Zeit nicht an erfolgreichen Sport zu denken

Aber ohne Sponsoren, die man damals noch nicht so nannte, war auch zu jener Zeit nicht an erfolgreichen Sport zu denken. „Diese Sponsoren versorgten uns Hungerleider mit Nahrungsmitteln“, berichtet Leser. Unter anderem erinnert er sich noch an den Gurkenfabrikanten Seidenschnur, viele Bäcker und den Pferdehändler Kirchner. „Für die Auswärtsspiele hatte die Frau des Trainers Kurt Näther noch aus Kriegsbeständen Kochgeschirre organisiert und jeder Spieler bekam eine Portion Pferdegulasch mit auf die Fahrt“, beschreibt Leser.

Eine Speisekarte der 1940er Jahre aus dem Besitz von Egon Leser.

Ansonsten hätte man unterwegs nur mit den Abschnitten der Lebensmittelkarten etwas zu essen kaufen können. Die Fahrt zum Beispiel nach Rostock zu den Spielen bewerkstelligte das Fuhrgeschäft Rauschel, „aber nicht mit einem Luxus-Omnibus, sondern mit einem Holzgas-Lkw. Wir saßen auf Gartenstühlen und mussten vorher noch zehn Sack Holzabfälle von der Holzlatschenfabrik in der Naumburger Straße mitnehmen.“ Gut erinnert sich Leser auch noch an die Gaststätte des Sportplatzes „Radrennbahn“. Dort saßen nicht nur die Anhänger der Feldhandballmannschaften beisammen, sondern auch die Spieler selbst. Bei einem Glas Bier für 20 Pfennige und Sülze mit Bratkartoffeln für 50 Pfennige habe man dann nicht nur über die Spiele gesprochen, sagt Leser.

Handball war besonders in den 1950er Jahren die erfolgreichste Sektion von Fortschritt Weißenfels

Handball war besonders in den 1950er Jahren die erfolgreichste Sektion von Fortschritt Weißenfels, dem Nachfolger von Schuhmetro. 16 verschiedene Meistertitel eroberten die Männer. Die Frauen avancierten zum erfolgreichsten Handballverein der DDR mit sechs Hallen- und neun Feldhandballtiteln.

Damit stellten die Handballer auch die gar nicht schlechten Fußballer in den Schatten, die es in die DDR-Oberliga schafften. Zu den bekanntesten Spielern der Stammelf von 1959, die mit dem sechsten Rang die beste Platzierung der Weißenfelser Fußballer erreichte, gehörte Eberhard Dallagrazia (1937 bis 2011), der noch in Leipzig Karriere machte und in den 1970er Jahren Trainer von Chemie Leipzig war.

Wie wichtig neben Handball der Fußball dennoch war, kann man auch noch aus einer Episode von 1932 ablesen. Damals wurde das neue Weißenfelser Stadion eröffnet. Das Eröffnungsspiel sollen der Hamburger Sportverein sowie der Dresdner SC bestritten haben, wie aus einer früheren Ausgabe des Weißenfelser Heimatboten hervorgeht. Bei strömendem Regen habe es 0:0 geendet. Das war für die Zuschauer schon enttäuschend, weil auf Dresdner Seite die Fußballlegende Richard Hofmann mitspielte und auch der noch ganz junge Helmut Schön (von 1964 bis 1978 Bundestrainer).